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    Das Foto (Kurzgeschichte)

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    Beitrag  Admin Do Okt 06, 2011 6:42 am

    „Es regnet.“ Niemand hört diesen Satz. Sophie sagt ihn nur zu Ihm. Zu Ihm auf dem Foto.Er, der nicht hier ist. Obwohl er sollte. Gerade jetzt braucht sie Ihn. Doch Er ist nur auf dem Foto anwesend. Sie sieht auf. Ihr Blick fällt auf das Gebäude ihr gegenüber. Es ist ein Hochaus. Ein anderes Hochhaus als das, auf welchem sie steht. Auch ein anderes Hochaus, als das auf dem Bild in ihrer Hand. Sophie blinzelt das Wasser aus ihren Augen. Regenwasser vermischt mit Tränen. Sie starrt wieder das Hochhaus an. Jetzt wirft sie wieder einen Blick auf die Momentaufnahme. Sein Lachen fällt ihr auf. Sein Blick, der in die Kamera vor ihm geht. Sie und er vor einem Hochaus in New York. „Das ist schon lange her.“ Wieder hört niemand sie sprechen. Oder hört sie nur nichts? Sie versucht sich zu konzentrieren. Sein das nicht Sirenen? Doch, das sind Sirenen, die heulend durch die Straßen rasen. Genau gleich klingen sie. So wie die Folgetonhörner in New York damals. Die Sirenen der Polizeiautos und der Rettungswähgen, die auf dem Foto nicht zu sehen sind. Sophie atmet tief ein. Sie schließt die Augen. Sie zählt die Sekunden. Eins, zwei, drei, vier, fünf, Jetzt atmet sie aus. Ihre Augen bleiben geschlossen. Ein leichter Schwindel erfasst sie. Keinesfalls unangenehm. „Ich könnte ewig so dastehen.“ Das Foto in ihrer Hand rutscht etwas herunter. Sophie greift etwas fester zu. Sie atmet wieder tief ein und aus. Jetzt öffnen sich ihre Augen wieder. Die Hand mit dem Bild von ihr und Ihm wandert hoch. Sie betrachtet es. Ihr Mund verzieht sich zu einer Grimasse. Sie zeigt Ihm die Zunge. Ihre trotzig starrenden Augen verlieren ihre Stärke. Die Mundwinkel gehen nach unten. „Warum?“ Das Bild antwortet nicht. Das kann es ja auch nicht. Wie sollte ein altes Foto eine Antwort geben auf Dinge, die erst später, lange nach der Momentaufnahme, passieren? So etwas ist unmöglich. Ein Foto zeigt nur den Bruchteil eines Lebensabschnittes. Ein Foto zeigt vor allem nur die Vergangenheit. Im Moment der Aufnahme weiß niemand über die Zukunft auch nur irgendetwas. „Er wusste aber schon, dass er mich verlassen will. Dieser Schuft hat mich zu dieser Zeit bereits betrogen! Wie kannst du es wagen, mit mir so glücklich auf diesem verdammten Bild auszusehen?! Du hast dich damals schon mit ihr getroffen! Du wusstest, dass du mich verlassen willst, aber du wusstest nicht,... du wusstest nicht,...“ Der in den Himmel geschriene Monolog wird am Ende leiser, verzweifelter. Die Stimme ist beinahe tränenerstickt. Regenwasser und Tränen vermischen sich mit Schminke zu einer schwarzen, verwischten Maske auf ihrer Haut. Das Foto ist geknickt und nass. In Sophies Schluchzen mischt sich das Trommeln der Regentropfen auf dem Dach hinter ihr. Das Dach auf welchem sie steht, tränenverschmiert und mit einem fast vollständig zerknüllten Foto, ist leer. Nein, nicht ganz leer. Im Schatten hinter ihr liegt etwas am Boden. Sophie lauscht hinter sich. Sie dreht sich nicht um. Ihre Augen schließen sich wieder. Sie konzentriert sich wieder auf die Sirenen. Da ist noch etwas. Sie hört die Aufregung unter sich. Sie hört die fernen Stimmen der Passanten unten am Gehsteig. „Ihr fragt euch wohl, ob ich mich traue zu springen, nicht wahr?“, stellt Sophie den Menschen unter ihr die Frage. Eine Frage, die nur sie hört. Nur sie, das Foto und die beiden leblosen Dinge auf dem Boden des Daches hinter ihr. Das Sirenengeheul wird lauter. Es ist jetzt direkt unter ihr. „Ihr habt die Polizei geholt, vielleicht sogar die Rettung, aber es ist zu spät.“ Sophies Augen bekommen einen seltsamen Ausdruck. Sie glänzen, aber sie tun es nicht, weil sie weint. Ihr Mund verzieht sich wieder. Diesmal zeigt er ein hämisches Grinsen, beinahe schon ein unheimlicher Anblick dieses Lächeln. Die beiden leblosen Körper hinter ihr lächeln nicht. Ihre Augen sind schreckgeweitet, die Münder in Erstaunen und Entsetzen geöffnet zu einem Stummen Rufen. Der Regen rinnt über die Gesichter, Arme und Beine. Er vermischt sich mit der großen dunklen Lache, die sich bereits zähflüssig von und aus den Körpern bewegt. Eine Lache dunkelroten Lebenssaftes, der in Sophies Adern noch lebendig und schnell durch ihren Körper rast. Sophies Augen schließen sich, ihr Atem beschleunigt sich. Hinter ihr das Geräusch einer Tür, die aufgestoßen wird. Stimmen, die zuerst harsch, dann besorgt, erschrocken und entsetzt klingen. Sophie steht mit dem Rücken zu ihnen, in der einen Hand ein Foto. Die andere Hand umfasst eine Pistole fester. Mit geschlossenen Augen, rasendem Puls und leicht schwankend steht sie vor zwei leblosen Körpern am Rande eins Hochhausdaches. Das Foto rutscht aus ihrer Hand und fällt.

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